every human light

every human light

Blindenschrift, Bleisatz, Linotype-Offsetdruck, Stimmen, Video

Handlungsanweisung

I:
Schließen Sie die Augen.

II:
Legen Sie Zeige- und Mittelfinger der linken Hand auf das linke geschlossene Auge und Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand auf das rechte geschlossene Auge.Erzeugen Sie Druck auf die unter den Augenlidern verborgenen Augäfpel.

III:
Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie sehen.

IV:
Die Lichtpunkte, die Sie sehen werden, erzeugten Sie selbst.Es ist Ihr persönliches Licht.

V:
Dieses Licht können alle Menschen, gleich ihres Geschlechts, ihrer Abstammung, ihrer Rasse, ihrer Sprache, ihrer Heimat und Herkunft, ihres Glaubens, ihrer religiösen oder politischen Anschauungen oder ihres sozialen Status‘ erzeugen.

J.Georg Brandt

every human light – Blindenschrift (Foto: J.Georg Brandt)
every human light – Ausstellungsansicht (Foto: J.Georg Brandt)

every human light – Gesprochene Handlungsanweisung

Katalogtext

 

Die Arbeit every human light (2001) von J.Georg Brandt präsentiert sich in denkbar komprimierter Form. Eine Handlungsanweisung[1] wird in drei Speicherversionen transportiert: auf weißem, lichtbeständigem Papier in Bleisatz, als Prägedruck in Blindenschrift und digital aufgezeichnet als gesprochener Text.

Die speziell für die Ausstellung personal light konzipierte Arbeit ist als grenzüberschreitendes Modell zu verstehen. Zentral ist die Thematisierung eines sowohl persönlichen als auch überindividuellen Lichts, das phänomenologisch zugleich weltumspannend ist. Die Wirkung, die der Handlungsanweisung zufolge eintreten kann, ist eine Lichterscheinung, mit der der Künstler nicht die naturwissenschaftlich zersplitterte Weltsicht, sondern die Erkenntniswelt eines Goethe herbeizitiert: „Jene unmittelbare Verwandtschaft des Lichtes und des Auges wird niemand leugnen, aber sich beide zugleich als eins und dasselbe zu denken hat mehr Schwierigkeit.Indessen wird es fasslicher, wenn man behauptet, im Auge wohne ein ruhendes Licht, das bei der mindesten Veranlassung von innen oder von außen erregt werde. Wir können in der Finsternis durch Forderungen der Einbildungskraft uns die hellsten Bilder hervorrufen. Im Traume erscheinen uns die Gegenstände wie am vollen Tage. Im wachenden Zustande wird uns die leiseste äußere Lichteinwirkung bemerkbar; ja wenn das Organ einen Anstoß erleidet, so springen Licht und Farben hervor.“[2]

Lichterfahrung kann hier in geistige Energie und Vorstellungskraft umschlagen. Brandt fokussiert die Voraussetzung unserer Wahrnehmung – und nicht nur die von Kunst. [3] Wahrnehmung ist immer sowohl physiologisch sowie von innerer Imaginationskraft, Lebenserfahrung, Wissen und Kreativität geprägt. In diesem anthropologischen Sinn ist Wahrnehmung von Kunst nur dann möglich, wenn Joseph Beuys‘ Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ zutrifft.

Das Werk every human light hat seine Vorläufer in der Konzeptkunst der 70er Jahre. So hat Bruce Nauman sein Werk Body Pressure – Körperdruck (1974) ebenfalls als eine Handlungsanweisung konzipiert. Nauman geht es dabei um eine Selbsterfahrung, die einerseits rein körperlich funktioniert, indem man sich an die Wand presst, andererseits aber auch über eine geistige Projektion seiner selbst, indem man sich als Gegenüber, das von der anderen Seite der Wand entgegendrückt, vorstellen soll.[4]

Brandt geht über diese reine Selbsterfahrung, die in der Body Art der 70er Jahre eine zentrale Rolle spielt, hinaus. Vor dem Hintergrund der für alle gültigen Grundvoraussetzungen stellt sich die Frage nach den wesensgemäßen Fähigkeiten von (Kunst-) Produktion und Rezeption. Damit untrennbar verknüpft ist eine ethische und humanitäre Forderung, wie sie auch im Titel anklingt[5]: Das Erscheinende als der Anteil des schöpferischen Subjekts wird – zu Ende gedacht – in ein intersubjektives Recht transformiert.

Anmerkungen:

[1] Die Form der „Handlungsanweisung“ findet auch in zahlreichen anderen Arbeiten des Künstlers ihren Niederschlag, beispielsweise in der Arbeit Multiples Maß (Zwei von …:), Weimar 1999 – 2000.
[2] Johann Wolfgang Goethe, Entwurf einer Farbenlehre, Einleitung, 1810.
[3] Für die Kunstwissenschaft und die Rezeptionsästhetik gilt: „Das Sujet der Werke ist das Subjekt, ist die Formung unserer Identität über Prozesse der Wahrnehmung und Identifikation.“ Wolfgang Kemp (Hg.): Der Betrachter ist im Bild, Köln 1985, S. 23.
[4] Vgl. Friederike Wappler, in: Ich ist etwas Anderes. Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts, Kat. Ausst. Kunstsammlung NRW, Düsseldorf 2000, S. 91.
[5] „Menschengemäße Kunst muß erstens: die Zerstörung des Menschengemäßen verhindern, zweitens: das Menschengemäße aufbauen. Nur das ist Kunst – und sonst gar nichts.“ (Joseph Beuys)

Katalogtext für die Ausstellung „personal light“ im Kunsthaus Hamburg (2001) von Dr. Reinhard Spieler
J.Georg Brandt